Einführung
Der deutsche Teil des römisch-deutschen Reiches von 1450 kann in 20 Gebiete eingeteilt werden, die sich im Bereich der heutigen Bundesrepublik mit deren Ländern weitgehend decken.
Gegenstand der hier vorliegenden „Deutschen Länder und Linien“ sind die 18 großen Territorialdynastien, von denen diese 20 Gebiete beherrscht wurden. Besonderes Interesse findet dabei das Verhältnis, in dem die einzelnen Linien der Dynastien zu einzelnen Landesteilen standen.
a) Zitierte Literatur
Sämtliche Angaben zu den Dynastien sind den „Europäischen Stammtafeln“ von Detlev Schwennicke (Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main) entnommen und sämtliche Angaben zu den Ländern dem „Historischen Lexikon der deutschen Länder“ von Gerhard Köbler (Verlag C.H.Beck, München).
b) Schnittstelle Stammbaum
Wenn wir im Geschichtsatlas blättern, sehen wir chronologisch geordnete Karten, auf denen Länder eingezeichnet sind. Wir entnehmen daraus, wie die Grenzen sich mit der Zeit verändert haben. Ein Geschichtsatlas beinhaltet also eine raumzeitliche Darstellung. Und zwar stellt er Veränderungen dar, die man anfassen kann, beispielsweise Grenzsteine, die versetzt wurden. Anders ausgedrückt: beim Geschichtsatlas haben wir es mit Hardware zu tun.
Die Software dazu heißt Politik. Was Grenzverschiebungen angeht, bestand die politische Software meistens in Krieg, Eroberungen und Friedensverträgen. Allerdings hing das von Epoche und Kulturkreis ab, und es gab erhebliche Unterschiede. Man denke nur an die Raubpolitik der Assyrer einerseits, und an die neuzeitliche europäische Gleichgewichtspolitik andrerseits.
Jedenfalls verbarg sich unter der geographischen Oberfläche stets ein politischer Kern, mit dem sie zusammenhing. Nie aber war der Zusammenhang so imponierend wie im mittelalterlichen Abendland: Man übertreibt kaum, wenn man die Gebietsverschiebungen, von denen es gekennzeichnet war, auf Heiratspolitik zurückführt und in ihr die Spezialität seiner politischen Klasse, des Adels, erblickt.
Darum ist neben dem Geschichtsatlas die Stammtafel das wichtigste technische Mittel zum Studium des mittelalterlichen Abendlands. Weitere vier technische Mittel erweisen sich als hilfreich: Liniendiagramme (z. B. siehe 1.1), Rechteckdiagramme (15.1), Geschlechter-Stammbäume (b.4), Rechteck-Pfeil-Diagramme (b.1). Den Ausgangspunkt bildet in jedem Fall der Stammbaum.
b1) Einfacher Stammbaum
Im einfachen Stammbaum sehen wir chronologisch angeordnete männliche Personen verzeichnet, die durch Geburt verbunden sind, also Väter und Söhne. Ganz oben befindet sich der Stammvater, von dem alle Personen abstammten, unten der zuletzt verstorbene Nachkomme, mit dem das Geschlecht erlosch.
Jede Person hatte einen Namen. Oft jedoch handelte es sich um einen Leitnamen: Oldenburger hießen oft Christian, Hohenzollern Friedrich oder Wilhelm, Zähringer Hermann usw. Manchmal wurde ein Leitname so häufig verwendet, daß man nach ihm das ganze Geschlecht bezeichnet: die Ottonen nach Otto, die Konradiner nach Konrad usw.
Aber in Wirklichkeit verhielt es sich umgekehrt. Eine adlige Person hatte außer ihrem Namen einen Familiennamen. Denn sie wurde mit der Familie identifiziert; und darum trug sie häufig einen entsprechenden Vornamen: den Leitnamen der Familie.
Immer jedoch war das Entscheidende, daß die individuelle Person und das familiäre Kollektiv identifiziert wurden. Auf diese Identifikation kam es an. Sie war sachlich begründet durch das Verhältnis von Person und Ort; und zwar handelte es sich um ein Besitzverhältnis: Die adlige Person besaß Land.
Der Adel aber entstand, als sich dieses Besitzverhältnis grundlegend wandelte. Es hatte, solange das Lehnssystem funktionierte, ein Amtsverhältnis ausgedrückt: Grafen und Herzöge fungierten ursprünglich als Beamte des Königs, und Lehnsleute besaßen, um ihre Aufgaben zu erfüllen, geliehenes Land, hatten also ihr Land von Königs Gnaden inne.
Bald jedoch geriet das Lehen in die Krise und tendierte zum Allod, d. h. der Besitz von Königs Gnaden wurde umfunktioniert in Eigentum von Rechts wegen. Der Besitz der Person leitete sich nicht mehr vom Amt her, sondern das Amt vom Eigentum der Familie. Als deren Glied wurde die Person Graf, Herzog oder sonstiger Amtsträger. Der Familienbetrieb bot, indem er die zentrale Bürokratie ersetzte, einen Ausweg aus dem Chaos der Dezentralisierung. So entstand im hohen Mittelalter die europäische Feudalaristokratie.
Die Aristokratie bildete einen Personenverband. In sie gelangte man nicht durch Verbeamtung, sondern durch Geburt in eine mit Land verbundene Familie, d. h. als Erbe. Nicht so sehr der Adlige besaß Land, sondern seine Familie. Sie trat als kollektives Individuum hervor, während seine Individualität hinter ihr zurücktrat. Und der sachliche Grund für diese Identifikation kam darin zum Ausdruck, daß der Familienname vielmehr Ortsname war: So stammten die Hohenzollern von Burchard ab, doch nannten sich nach der Burg Zolorin, weil Burchard von Zolorin stammte und diese Burg als die Stammburg galt, auf die sie ihren Gesamtbesitz bezogen.
Ferner machte eben der Leitname das Zurücktreten des einzelnen hinter dem kollektiven Individuum deutlich; und wenn einem Sproß der Dynastie der Württemberger im 17. Jh. der exotische Name Silvius Nimrod gegeben wurde (vgl. 18.2), so kam das nicht von ungefähr, sondern von der Renaissance, mit welcher der Individualismus Einzug hielt.
b2) Liniendiagramm
Jedenfalls müssen wir festhalten: Die vom Adel geprägte Gesellschaft war eine Personenverbandsgesellschaft und der Adlige nicht so sehr Person, sondern vielmehr Erbe, d. h. Mitglied eines Personenverbandes, nämlich einer Gemeinschaft von Landerben.
Folglich stellte das Adelsgeschlecht das eigentliche Individuum dar und lebte gleichsam ein eigenes Leben. Die biologische Bezeichnung der Stammtafel als Stammbaum trifft den Sachverhalt genau. Doch sieht man bei Stammbäumen für gewöhnlich den Baum vor Blättern nicht. Seine Kontinuität, die auf dem Erbprinzip beruhte, kommt im Liniendiagramm besser zum Ausdruck.
Das Liniendiagramm abstrahiert von den einzelnen Personen, indem es deren Besitz vielmehr als Besitz der Linie auffaßt. Die Kontinuität des familiären Eigentums wurde institutionell geregelt vom Erbrecht, und hieraus folgte die Verzweigung in Linien. Denn die Entstehung von Zweigen war sachlich begründet durch die Teilung des Landbesitzes.
Zwar folgte die Linienverzweigung nicht logisch aus dem Erbprinzip, denn es mußte keineswegs im Sinne von Teilung ausgelegt werden. Doch hatte solche Auslegung einen Grund. Die feudale Teilung orientierte sich am Modell der Amtsbezirke, in die sich der funktionierende Lehnsstaat gegliedert hätte, und ersetzte sie, weil er nicht funktionierte, durch die feudalen Bezirke, nämlich die Erbteile.
Jedenfalls wurde das Erbprinzip faktisch so ausgelegt: Der Sohn erbte vom Vater das Land und war sein Nachfolger im Amt, aber das Land befand sich im Besitz der Familie, und darum stand jüngeren Söhnen und ihren Nachkommen eine Teilherrschaft zu.
Wie sehr sich der europäische Adel durch dieses Prinzip der Vererbung definierte, beweisen die vielen von Vater (indogerm.: atta) abgeleiteten Vornamen, die er bevorzugte: Otto, Udo, Udalrich, Adolf, Edgar, Edith, Ida, Adele usw.; ferner Wörter wie Adel, Allod, Kleinod usw.
Die männliche Vererbung hatte zwei Aspekte: Teilung und Wiedervereinigung. Wenn in einem Zweig kein Mann mehr existierte, der Söhne hinterließ, fiel das abgezweigte Gut heim, konnte z. B. neuverteilt werden.
Ebenso hatte die weibliche Vererbung zwei Aspekte: Erwerb und Veräußerung. Regulär erworben wurde Besitz durch eine Mutter, d. h. durch die Ehe mit einer Frau, die einer anderen Familie entstammte, und die Vererbung des Besitzes auf ihren Sohn; regulär veräußert wurde Besitz durch eine Tochter, d. h. durch ihre Ehe mit einem Mann, der einer anderen Familie entstammte, und durch Vererbung der Mitgift auf ihren Sohn. (Irreguläre Arten von Erwerb und Veräußerung waren Kauf, Schenkung, Stiftung, Konfiskation, Tausch u. a.)
Weibliche Vererbung bildete daher den Motor der Gebietsveränderung und Grenzverschiebung. Erlosch ein Zweig in der männlichen Linie oder gar das gesamte Geschlecht, so wurde die Ehe der Erbtochter entscheidend für den Übergang von Besitz und Amt auf die neue Dynastie.
(Zu unterscheiden sind dabei salisches und sächsisches Recht. Nach salischem Recht genoß die männliche Linie Priorität, d. h. auf einen Mann, der keinen Sohn hinterließ, folgten seine Brüder, Onkel usw.; nach sächsischem Recht wurde dagegen über die weibliche Linie vererbt, d. h. auf einen Mann, der keinen Sohn hinterließ, folgte seine älteste Tochter, nicht sein Bruder.
So folgte auf Kg. Georg VI v. England nach sächsischem Recht nicht sein Bruder Henry v. Gloucester oder dessen Söhne William und Richard, sondern seine ältere Tochter Elizabeth. Gleicherweise bestieg nach dem Tod Kg. Wilhelms IV v. England und Hannover 1837 nach sächsischem Recht den englischen Thron die Tochter seines (1820 verstorbenen) Bruders Eduard, Victoria, und nicht Eduards jüngerer Bruder Ernst August, der aber nach salischem Recht 1837 den hannoverschen Thron bestieg; und während der englische Thron in weiblicher Linie vererbt wurde, also 1901 auf Kgn. Victorias Sohn Eduard VII überging, folgte in Hannover auf Kg. Ernst August 1851 dessen Sohn Georg V. Wegen der rechtlichen Differenz wurde also 1837 auf Dauer die Personalunion von England und Hannover aufgehoben (vgl. 12.1-2).)
b3) Rechteckdiagramm
Der Vorteil des Liniendiagramms liegt darin, daß es von einzelnen Personen und Generationen absieht: Es verdeutlicht den Fluß der einzelnen Linien und ihren Rückfluß beim Ableben ihres jeweils letzten Vertreters. Liniendiagramme sind somit ein geeignetes Mittel, das vertikale Geschehen darzustellen, d. h. Teilung und Wiedervereinigung. Es beschränkt sich auf die männliche Vererbung, den Prozeß innerhalb einer Dynastie.
Weibliche Vererbung aber bringt die Verbindung mit anderen Dynastien ins Spiel. Sie verdeutlicht besser der Stammbaum. Dazu muß man den einfachen Stammbaum durch die Heiratsverbindungen erweitern, d. h. Mütter, Töchter und angeheiratete Verwandtschaft einzeichnen.
Das läuft letztlich auf die Verflechtung aller Stammbäume hinaus, denn alle Dynastien waren miteinander verwandt. Schon zwei Stammbäume jedoch lassen sich wegen der zunehmenden Vernetzung kaum mehr übersichtlich kombinieren. Vor allem gerät das am horizontalen Geschehen Interessierende, Erwerb und Veräußerung von Land, aus dem Blick.
Zur Veranschaulichung des horizontalen Geschehens, der Landvererbung zwischen Dynastien, eignet sich das Rechteckdiagramm (vgl. 15.1). Wir sehen darin als Abszisse die Länder, als (negative) Ordinate die Zeit eingetragen. Der Zeitraum des Besitzes eines Landes durch eine Dynastie erscheint dann als Rechteck, und die Gesamtheit ihrer Rechtecke repräsentiert ihren Gesamtbesitz in dem Zeitraum.
Fährt man unter einem Land die Ordinate entlang, so resultiert also die zeitliche Abfolge der dieses Land regierenden Dynastien; fährt man zu einem Zeitpunkt die Abszisse entlang, so resultiert der Gesamtbesitz jeder Dynastie zu diesem Zeitpunkt (vgl. 15.1).
b4) Geschlechter-Stammbaum
Damit ermöglichen Rechteckdiagramme, grob abzuschätzen, in welchem Zeitintervall ein Geschlecht seine Macht entfaltete, auf welche Region sich diese Machtentfaltung konzentrierte und welche Geschlechter ihm hierin vorausgingen oder nachfolgten. Dieses Zeitintervall ist, wenn man das Geschlecht als Person auffaßt, gleichsam ihre „Regierungszeit“, und analog zum Stammbaum sind seine Vorgänger und Nachfolger gleichsam ihre „Vorfahren“ bzw. „Nachfahren“.
Nimmt man als Abszisse die Regionen und als (negative) Ordinate die Zeit, so gelangt man auf diese Weise zu einer Art Geschlechter-Stammbaum (siehe b.4, 6, 8).
b5) Rechteck-Pfeil-Diagramm
Das Rechteckdiagramm verdeutlicht, indem es von Personen, Generationen und Linien abstrahiert, die Zugehörigkeit des Landes zur Dynastie. Treibt man die Abstraktion weiter und sieht auch von den Dynastien ab, dann reduziert sich die Zugehörigkeit aufs Verhältnis zwischen Ländern.
Sie kann durch ineinandergesetzte Rechtecke veranschaulicht werden: Das vom inneren Rechteck symbolisierte Land gehört zu der vom äußeren symbolisierten Herrschaft. Der Übergang des Landes vom einen zum anderen Herrschaftsbereich läßt sich dann durch Pfeile darstellen, an die man Jahreszahlen schreibt (siehe z. B. 6.1).
Ein solches Rechteck-Pfeil-Diagramm ist eine schematisierte Version der chronologischen Abfolge von Landkarten. Wir landen mit ihm also wieder beim Geschichtsatlas, und der Kreis schließt sich.
Die Nachteile der schematisierten Darstellung liegen auf der Hand. Ihr Vorteil zeigt sich jedoch im Fall von Herrschaftsübergängen, die nur Teilgebiete betrafen oder nur zeitweise galten. Solche partiellen Übergänge kamen häufig vor und verliefen oft verwickelt. Um ihre Feinstruktur zu erfassen, müssen sie räumlich wie zeitlich gestaffelt wiedergegeben werden. Das kann der Geschichtsatlas nicht mit nur einer Karte leisten. Dagegen kann man die Komplexität eines Rechteck-Pfeil-Diagramms beliebig weit treiben, ohne daß es unübersichtlich werden muß (siehe auch das zu 6.1 Gesagte).
c) Sinn des historischen Vergleichs
Der Reiz der Geschichte liegt in der Verbindung von Individuellem und Allgemeinem. Geschichte muß erzählt werden, und die Erzählung des Individuellen lebt davon, daß sie es uns als etwas Denkwürdiges nahe bringt: als etwas, was uns zu denken gibt, unseres Gedankens würdig ist. Sie muß, um vergangene Ereignisse zu vergegenwärtigen, dieselben so beschreiben, daß sie uns in ihrer Einmaligkeit vor Augen treten; doch wird aus der Beschreibung kein lebendiges Erzählen, wenn sie nicht Erklärung mit einschließt: Lebendige Erzählung muß das Besondere, das beschrieben wird, zudem darbieten als etwas, was der Erklärung dient oder bedarf. Erklären aber heißt stets auch verallgemeinern.
Umgekehrt liegt uns daran, einen geschichtlichen Vorgang zu verstehen; und verstehen läßt er sich, wenn er von allgemeinen Zusammenhängen handelt. Dann läßt er sich jedoch, weil Allgemeines ja anonym ist, nicht erzählen - es sei denn als Geschichte eines Besonderen, das exemplarisch fürs Allgemeine steht.
Indes kommt diese Verbindung von Individualität und Allgemeinheit, von Beschreibung und Erklärung nicht wirklich zustande. Sie ist ein Ideal. In der idealen Geschichtsschreibung kämen die beiden Seiten zusammen, doch in der Wirklichkeit laufen sie auseinander.
Auf der einen Seite haben die wissenschaftlichen Disziplinen einen überwältigenden Apparat von Methoden entwickelt, mit dem sie sich erfolgreich der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen annehmen, um sie als Exemplare allgemeiner Tendenzen, Prozesse, Muster, Strukturen und Paradigmen verständlich zu machen. Und dabei spielt in den ethnologischen, linguistischen, sozialpsychologischen, wirtschafts- und rechtshistorischen Untersuchungen fürwahr das Besondere eine große Rolle. Aber es spielt die Rolle des empirischen Materials, das man analysiert, nicht die des Stoffs, den man erzählt. Dem systemtheoretischen Denken liegt das Besondere als Exemplar einer Gattung am Herzen; als singuläre Erscheinung, einmaliges Ereignis oder individuelle Person bleibt es uninteressant.
Auf der anderen Seite wird das Feld beherrscht vom gesunden Geschichtsempfinden, das auf seine Theorieabstinenz große Stücke hält und hinter allen systematischen Entwürfen Ideologie wittert. Dabei ist es dem Verstehen keineswegs abgeneigt. Auch ihm liegt viel daran, die empirischen Fakten zu erklären. Aber seine Philosophie bescheidet sich bei dem Satz, jeder Mensch sei Kind seiner Zeit; und weil jeder einzelne Fakt das aufs neue demonstriert, ist dessen Beschreibung schon Erklärung genug.
In Wahrheit erklärt der Satz, daß jeder Mensch Kind seiner Zeit ist, gar nichts. Natürlich trifft er zu. Aber er trifft auf die Menschen unterschiedlich zu. Er beinhaltet für einen Winzer an der Mosel um 1200, dessen Namen wir nicht kennen, etwas ganz anderes als für einen Winzer an der Mosel heute: Das Leben des letzteren läßt sich in einem Feature, indem es die zeitgeschichtlich verallgemeinerbaren Züge herausarbeitet, exemplarisch erzählen; das Leben des ersteren läßt sich in einer wirtschaftsgeschichtlichen Analyse statistisch erfassen, und die Feststellung, daß auch er Kind seiner Zeit war, daß auch er unter geschichtlich bestimmten Bedingungen dachte, fühlte und handelte, ist so richtig wie sinnlos, weil sie von der Geschichtsschreibung nicht realisiert werden kann.
Ferner trifft jener Satz auf den Moselwinzer um 1200 ganz anders zu als auf den Ritter, der um 1200 auf seiner Burg an der Mosel saß. Von diesem kann man freilich kein Feature machen, und auch durch den Umstand, daß wir seinen Namen kennen, wird sein Leben nicht schon zum historiographischen Gegenstand. Aber wir kennen außerdem den Namen seiner Familie, und das gibt der Feststellung, daß Menschen allemal unter für ihre Zeit spezifischen Bedingungen lebten, welche als allgemeiner Satz sinnlos ist, einen besonderen Sinn.
Denn der Grund, daß wir den Namen der Familie des Moselritters kennen, liegt in ihrer Zugehörigkeit zum Adel. Diese Zugehörigkeit stellte um 1200 die ausschlaggebende Bedingung dar und bildet deshalb das unterscheidende Merkmal: Die abendländische Welt jener Zeit war eine Welt des Adels, und in dieser Welt hatte die Familie eines Winzers, eines Bauern, eines Handwerkers keinen Namen.
Für die Soziologie bedeutet dieser Unterschied, daß die sozialen Strukturen geprägt waren von einem Personenverband, der ökonomische, juristische und politische Privilegien genoß. Für die Geschichtsschreibung liegt der Akzent anders: Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Adel wird die Familie zu einer unterscheidbaren unter gleichen, d. h. zu einem Gegenstand des historischen Vergleichs statt bloß der vergleichenden Statistik; und die mittelalterliche Personenverbandsgesellschaft interessiert mehr als Gegenstand des Vergleichs verschiedener Länder und Zeitabschnitte denn als universelle soziologische Kategorie.
Das vergleichende Verfahren hat in der Geschichte die Funktion des Theorieersatzes. Vom Vergleich werden Zusammenhänge erhofft, die mehr erklären als der Satz, daß jeder Mensch Kind seiner Zeit ist. Allerdings verlangt das Verfahren einen Preis; denn vergleichen kann man nur, was sich auf den Begriff bringen läßt.
Man kann Kleinfürstengeschlechter an der Mosel um 1200 vergleichen mit Adelsgeschlechtern an anderem Ort, zu anderer Zeit, auf anderem ökonomischen Niveau, auf anderer Rangstufe; und zwar ist das darum möglich, weil die adlige Familie ihren Stand repräsentierte. Für die mittelalterliche Winzerfamilie gilt das nicht. Es gab sie, aber es gibt von ihr nichts zu berichten. An ihr findet sich nichts, was beim Namen zu nennen wäre. Dagegen findet der Vergleich am Adelsgeschlecht etwas, was auf den Begriff zu bringen ist.
Am Ende scheint die vergleichende Methode doch die Verbindung des Individuellen mit dem Allgemeinen, nämlich dem Begriff, zu ermöglichen. Aber diese Verbindung kommt zu dem Preis zustande, daß in Kollektivbegriffen gedacht wird. Nur kollektive Individuen lassen sich auf den Begriff bringen: absolutistische Staaten, demokratische Parteien, privilegierte Gruppen, gemeinnützige Organisationen, adlige Familien. Nur kollektive Subjekte können wirklich Exemplare einer allgemeinen Gattung sein.
Dem individuellen Subjekt vermag somit auch der Vergleich nicht Genüge zu tun. Das Einmalige läßt sich eben doch nur berichten, und die Erzählung, die ihm gerecht zu werden sucht, läuft günstigstenfalls auf die unterhaltsame Anekdote hinaus.
Weniger noch vermag der historische Vergleich die Methoden der exakten Disziplinen zu ersetzen. Tut er es ihnen nach und behandelt das einzelne Phänomen als Fall für die Strukturanalyse, landet er regelmäßig im langweiligen Spezialtraktat.
Man sollte also die Möglichkeiten des Vergleichs als historiographische Methode nicht überschätzen. Seine Schwäche kann man in zwei Punkten zusammenfassen. Erstens handelt es sich bei ihm bloß um einen Kompromiß zwischen theorieloser Geschichte und geschichtsfremder Theorie. Zweitens haftet ihm die Paradoxie an, daß er ein rationales Verfahren ist und zugleich einen fürs rationale Denken hohen Preis verlangt: Wir sollen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu begreifen, in Kollektivbegriffen denken. Uns werden Pseudopersönlichkeiten suggeriert: Wir sollen als die Individuen, mit denen das vergleichende Studium zu tun hat, vielmehr kollektive Größen ansehen - im Fall des Mittelalters Adelshäuser. Andrerseits bekommt die Beschäftigung mit solchen Adelshäusern einen Sinn durch den Vergleich: Von ihm erhoffen wir Aufschluß über mögliche Zusammenhänge.
Zuvor sei betont, daß der Vergleich an sich nichts erklärt. Er bedarf vielmehr einer Erklärung. Denn die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die er entdeckt, folgen vielmehr aus Deutungen, die er unterstellt. Schon die Auswahl der Unterschiede, die als relevant vorausgesetzt werden, ist eine Deutung. Was als unvoreingenommene Gegenüberstellung erscheint, erweist sich in Wahrheit als Interpretation der Fakten. In sie wird etwas hineininterpretiert.
Darum sind die Fachdisziplinen und ihre Analysen ein unentbehrliches Korrektiv. So kann bei der Frage, wie weit Kollektivbegriffe die Realität verfehlen, auf die wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen nicht verzichtet werden: Wenn sie Indizien dafür beibringen, daß im Mittelalter tatsächlich Individuen hinter der Gruppe zurücktraten und selber sich mit ihr identifizierten, dann allerdings hat die Rede von kollektiven Persönlichkeiten einen realen Grund.
Indes bergen wissenschaftliche Argumente die Gefahr, daß Begründungen plausibel klingen, weil sie in sich schlüssig sind und nachvollziehbar erklären, und dennoch das geschichtliche Phänömen nur wegerklären. Es gibt eine Tradition der wegerklärenden Geschichtsbetrachtung - und eine Tendenz der Fachdisziplinen, sie fortzusetzen. Der Vergleich, der auf Unterschieden nicht weniger besteht als auf Gemeinsamkeiten, vermag solche Tendenz wohl kaum zu korrigieren. Aber er mag, wenn es um die Realität geht, sich als das schlüssigere Verfahren erweisen.
d) Ausblick (Skizze)
Die hier präsentierten „Deutschen Länder und Linien“, die eine Vorarbeit sind, haben mit dem soeben Ausgeführten, scheint es, wenig zu tun. In der Tat findet sich in ihnen nichts, was darauf eingehen würde. Die Ausführungen deuten jedoch die Richtung an, in der sich die „Deutschen Länder und Linien“ weiterführen lassen, ferner den Zweck, den das hieraus Resultierende erfüllen könnte.
In den „Deutschen Ländern und Linien“ werden die vollständigen Stammbäume der 18 größeren Territorialdynastien zugrunde gelegt, aber so beschnitten, daß die Haupt- und Nebenlinien hervortreten. Diese Vorarbeit beschränkt sich also auf den vertikalen Aspekt, d. h. behandelt die 18 Dynastien isoliert.
Als nächster Schritt wären die Stammbäume unter dem Aspekt der Heiratspolitik zu erweitern und miteinander zu verbinden. Wenn man indes damit bezweckt, die für die territoriale Entwicklung Deutschlands charakteristischen Veränderungen transparent zu machen, indem man vorführt, wie hierbei die eheliche Verbindung den Ausschlag gab, dann müssen die 18 Stammbäume nicht nur miteinander, sondern auch noch mit denen anderer Dynastien verbunden werden. Insbesondere ist an die deutschen Königsfamilien von den Karolingern bis Staufern zu denken. Als weiterer Schritt drängt sich der Vergleich mit Nachbarn auf, zumal Frankreich.
Freilich geht mit jedem Schritt das Problem einher, wie sich all das übersichtlich darstellen läßt. Eine Lösung sind vereinfachende Diagramme. Beispielsweise bieten Rechteck-Pfeil-Diagramme (s. o. b.5) eine mit dem Geschichtsatlas äquivalente schematische Darstellung. Bei ihnen handelt es sich natürlich um die Verdeutlichung von Zusammenhängen, die über die Genealogie hinausgehen und mit Stammtafeln nichts mehr zu tun haben.
Das ist auch nicht nötig. Stammtafeln sind nur ein Typ der schematischen Charakterisierung territorialer Entwicklungen und solche Schemata wiederum nur ein Typ, Zusammenhänge darzustellen. Zweifellos hat man zu vermeiden, daß ein bestimmter Typ strapaziert und zuviel hineingedeutet wird. Andrerseits hängt aber das Problem der Darstellung ja gar nicht davon ab, ob es beim Darzustellenden um wissenschaftlich erhärtete Zusammenhänge geht oder um Spekulation. Die überragende Bedeutung der genealogischen Komponente allerdings ist eine Spezialität des europäischen Mittelalters und keine Spekulation.
Jedenfalls sind lohnende Objekte des Vergleichs (und der Spekulation): Deutschland, Frankreich, England, Spanien, Polen, Rußland.
Die Auswahl hat einen Grund. Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Staaten zu veranschaulichen, ist an sich schon interessant. Doch der räumliche Vergleich kommt erst zur Geltung, wenn man ihn mit dem zeitlichen kombiniert. Man findet nämlich drei Zeitabschnitte der staatlichen Entwicklung in Europa: auf die universalstaatliche Epoche folgte die hegemoniale, auf die hegemoniale Epoche die des Gleichgewichts. Im Fokus des Universalanspruchs standen Kaiser und Papst, also Deutschland; nach europäischer Hegemonie strebten sodann Polen, Spanien (Philipp II), Frankreich (Ludwig XIV); und die fünf Großmächte im Gleichgewicht waren schließlich England, Frankreich, Rußland, Preußen und Österreich.
In Deutschland wurde während der ersten Epoche das Bild bestimmt von den Kaiserhäusern bis zu den Staufern, während der zweiten vom Hausmachtkönigtum, unter dem auch die 18 Territorialdynastien aufstiegen, während der dritten vom habsburgischen Nominalkaisertum, unter dem das Reich zum Aggregat von Kleinstaaten wurde, an dessen Rand sich der preußisch-österreichische Dualismus entfaltete.
Frankreich repräsentierte dagegen die Hegemonialepoche. Statt der 18 Dynastien gab es hier von Beginn an die Zentraldynastie Capet und nur drei Landtypen: Domäne, Apanagen, Lehen, wobei alle Komponenten zur bourbonischen Zentralmonarchie gravitierten. (Die französischen Stammtafeln, neben die deutschen gehalten, bringen diesen Unterschied überzeugend zum Ausdruck.)
Das Leitmotiv Englands war die Kolonie. Von Frankreich kolonialisiert versuchte England seinerseits, Frankreich zur Kolonie zu machen, was scheiterte, aber England für den Kolonialismus vorbereitete. Die englische Genealogie ist gekennzeichnet vom Ausland; nur bis 1066 regierten Einheimische, ab 1015 schon wurde (bis heute) der Thron von Ausländern besetzt: Normannen, Franzosen, Walisern, Schotten, Niederländern, Deutschen. Insellage, Kolonie, Ausland, Parlament und zum Bürgertum durchlässiger Adel waren die Faktoren, die den englischen Staat zur Gleichgewichtspolitik prädestinierten.
Nach dem Ende des Westgotenreichs drifteten einerseits die iberischen Teilkönigreiche auseinander, indem Portugal eigene Wege ging; andrerseits bewahrten Asturien (Leon), Kastilien, Navarra und Aragon das Bewußtsein einer einheitlichen Nation, wie es sich widerspiegelte in der gemeinschaftlichen Regierung der Teile durch Königshäuser, die (im Gegensatz zu den portugiesischen) nicht so sehr einander ablösten als eher ineinandergriffen; und obwohl sich Aragon zusehends in ein italienisches Königreich verwandelte, bewirkte die habsburgische Vereinigung Spaniens vielmehr, daß (Unter-)Italien spanisch wurde.
Polen übte eine ostmitteleuropäische Hegemonie aus, als die spätmittelalterliche Depression Frankreich, England und Deutschland lähmte. Doch verdankte sich dieser Aufstieg mehr noch dem dynastischen Wechsel: Nach der Ära der Piasten kamen die Jagiellonen zum Zuge, die aufs neue Wirkungsfeld ihre litauischen Interessen mitbrachten und die Schwächung Rußlands durch die mongolische Besatzung ausnutzten.
Die mongolische Besatzung hatte Rußland einerseits geschwächt und das regierende Fürstenhaus Ruriks so zur Ader gelassen, daß sein weit ausladender Stammbaum im 13. Jh. eine drastische Einschnürung aufweist. Andrerseits beeinflußte das tatarische Regiment den Herrschaftsstil der Rurikiden und formte ihn grundlegend um. Unter ihnen und den Romanow wurde Rußland zur eurasischen Macht: zur Hegemonialmacht in Asien und zu einer der fünf gleichgewichtigen Großmächte in Europa.